Inhalt / Beschreibung
Das Thema der Immigration gewinnt seit einigen Jahren immer mehr an Brisanz. Der Begriff „Parallelgesellschaft“ ist dabei allgegenwärtig und die Assoziation von Bezirken, in denen türkische und arabische Geschäfte aneinandergereiht sind, von Schulklassen, in denen drei deutsche Kinder mit dreißig Mitschülern mit Migrationshintergrund zusammensitzen ist evident. Es scheint, als seien die Themen Einwanderung und Integration ein Problem der heutigen Gesellschaft, obwohl es sich dabei um alte Phänomene handelt. Menschen, deren Grundbedürfnisse im Heimatland nicht abgedeckt sind, sehnen sich häufig nach einem Neuanfang an einem anderen Ort. Vor circa 200 Jahren begann im deutschsprachigen Raum1 eine – ebenfalls nicht unumstrittenen – Massenauswanderung in die „Neue Welt“ Amerika, wobei Südbrasilien2 eine bedeutende Rolle spielte. Während Brasilien Einwanderer ins Land zu holen versuchte, um die Grenzen der südlichen Region des Landes vor der spanischen Kolonialmacht zu schützen und der unvermeidlich bevorstehenden Abschaffung der Sklaverei weiße Europäer entgegenzusetzen, gab es in Deutschland ein Überangebot an Arbeitskräften. Aufgrund stark variierender Angaben ist es schwer, eine genaue Einwandererzahl zu bestimmen. Es kann aber festgestellt werden, dass deutsche Immigranten im Zeitraum von 1820 bis 1940 die viertgrößte Einwanderergruppe ausmachten. Bis zum Beginn der massenhaften Einwanderung aus Italien in den 1870ern war die deutsche überwiegend sozialen Ursachen zuzuordnen – vor allem Kleinbauern und Handwerker wollten sich in Brasilien mit ihren Familien ein neues Leben aufbauen. Dabei gibt es zwei unabhängige, auf unterschiedlichen Interessen beruhende Strömungen: eine nach São Paulo, eine andere nach Südbrasilien. In dieser Arbeit soll die Auswanderung nach Südbrasilien in den Blickpunkt gerückt werden, da sich die zentrale Thematik der Identität hauptsächlich aus dem Kontext der deutschsprachigen Kolonien in den drei südbrasilianischen Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná entwickelt. Die große Masse der Auswanderungen sei nicht ohne anziehende Motive des Einwanderungslandes zu erklären: die Hoffnungen der „Neuen Welt“, die durch ihre Größe und dünne Besiedlung die Möglichkeit bot, Einwanderer aufzunehmen und versprach, diese wie in der alten Heimat in ihrem Beruf arbeiten zu lassen. Der Wunsch nach Selbständigkeit, eigenem Grund und Boden konnte erfüllt werden. Auswandererbriefe, Abenteuer- und Reiseromane und die Werbung der Schifffahrtslinien spielten bei der Verbreitung dieser Vorstellung eine große Rolle.3 Trotz gegen die Auswanderung nach Brasilien gerichteter Bemühungen gibt es am Ende des 19. Jahrhunderts weit über hundert deutschsprachige Kolonien, der Großteil von ihnen im Süden des Landes.4 In der vorliegenden Arbeit wird als Grundlage der kultur- und literaturwissenschaftlichen Untersuchung zum einen ein historischer Überblick über die deutschsprachige Auswanderung nach Brasilien, zum anderen einige wichtige theoretische Gedanken der Kulturwissenschaft zur Thematik des Eigenen und Fremden gegeben. Daraufhin finden die in Deutschland publizierten Texte Raum, da sie die Grundlage des Fremd- und damit auch Selbstbildes schaffen. Anschließend werden einige Publikationen aus Brasilien betrachtet – wieder in Bezug auf das Fremd- und Selbstbild. Zuletzt soll die Entwicklung der Selbst- und Fremdbilder noch einmal zusammengefasst werden. Die historische Einführung ist bei der Betrachtung der Literatur unverzichtbar. Zum einen stellen die Texterzeugnisse selbst historische Zeugnisse dar, werden oft eher unter diesem als unter einem ästhetischen Aspekt betrachtet, zum anderen werden durch die Diskussionen um die Brasilienauswanderung Vorstellungen, Vorurteile etc. vermittelt, die die Autoren unumgänglich beeinflussen mussten. Die Auswanderung hatte in den Regionen des deutschen Raumes eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen. So kamen deutsche Auswanderer beispielsweise nach Brasilien, um wirtschaftlichen oder politischen Problemen zu entkommen – mit der Hoffnung bessere Lebensbedingungen vorzufinden. In dieser Arbeit werden größtenteils nur die für alle geltenden schweren Ursachen angesprochen. Zu einigen der Regionen gibt es aber spezielle Veröffentlichungen.5 Der betrachtete Zeitraum wird mit dem Zweiten Weltkrieg enden, da das fokussierte Fremd- und Selbstbild mit dem Verbot der deutschen Sprache etc. einen starken Bruch erlebt, der genug Stoff für eine eigene wissenschaftliche Untersuchung bietet. Natürlich handelt es sich bei der „Identität der Deutschen in Brasilien“ um eine starke Vereinfachung, besteht doch die Geschichte aus einer unendlichen Vielzahl individueller Lebenswelten, -geschichten, -ansichten und Empfindungen. Die deutschen Auswanderer entstammten unterschiedlichen sozialen Schichten, Religionen sowie Regionen und hatten unterschiedliche politischen Einstellungen. Es handelt sich also um eine heterogene Gruppe. Die vorliegende Arbeit versucht jedoch auf der Basis der zeitlichen Umstände eine Tendenz des Verständnisses deutscher Selbst- und Fremdbilder ausfindig zu machen und einige Texte exemplarisch zu betrachten. Es soll analysiert werden, wie es zu einer sogenannten teutobrasilianischen Identität kam und was darunter verstanden werden kann. |